Dr. Saskia Etzold ist Rechtsmedizinerin und Abteilungsleiterin der Gewaltschutzambulanz (GSA) an der Charité in Berlin. Als die GSA 2014 gegründet wurde, gab es nur sie und ihre Sekretärin. Mittlerweile gibt es 12 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und es gibt einiges zu tun. Dr. Saskia Etzold ist mit Herzblut dabei, wenn sie über die Arbeit der GSA spricht und es ist sicher auch ihrer Durchsetzungsfähigkeit und Sprachgewandtheit zu verdanken, dass die GSA mittlerweile ein fester Bestandteil des Berliner Hilfesystems ist und finanziell im Berliner Senat verankert werden konnte. Für den Runden Tisch Istanbul-Konvention haben wir Dr. Saskia Etzold als Expertin ins Forum K / Rotes-Kreuz-Krankenhaus eingeladen und mit ihr am Rande der Veranstaltung ein Gespräch geführt.
Die Gewaltschutzambulanz an der Charité in Bremen gibt es bereits seit 2014 und bis Ende 2020 wandten sich 7.713 Personen an die GSA. Davon hatten 3.900 Personen sichtbare Verletzungen. Was ist mit den anderen Personen? Wie werden die betreut?
Dr. Saskia Etzold: Die Gewaltschutzambulanz an der Berliner Charité ist in erster Linie eine Anlaufstelle für die Dokumentation von Verletzungen, die im Rahmen von Gewaltdelikten entstanden sind. Da sie sich aber mittlerweile in Berlin etabliert hat und bekannt ist, kommen auch immer wieder Personen auf uns zu, deren traumatische Erlebnisse z.B. länger her sind und die eher eine Beratung benötigen, weil sie keine sichtbaren Verletzungen mehr aufweisen. Diese Personen schicken wir dann natürlich nicht weg, sondern versuchen sie in das niedergelassene Hilfesystem zu vermitteln.
Von 2.878 untersuchten Fällen in der GSA sind 56 vertrauliche Spurensicherungs-Fälle. Was bedeutet das?
Dr. Saskia Etzold: Eine vertrauliche Spurensicherung ist ein feststehender Begriff, der bei uns nur bei Sexualdelikten zum Einsatz kommt. Hier werden DNA-Spuren nach einem Sexualdelikt ohne Anzeige bis zu 72 Stunden nach der Tat gesichert und können auf Wunsch der Betroffenen 1 Jahr aufbewahrt werden. In allen anderen Fällen, z.B. nach häuslicher oder interpersoneller Gewalt, nach Gewalt im Dienst oder in Fällen von Kindesmisshandlung werden Fotos von den Verletzungen gemacht und schriftliche Dokumentationen erstellt. Dies ist selbstverständlich auch ohne eine Anzeige möglich, hier sprechen wir aber von einer anzeigenunabhängigen Dokumentation.
Wie läuft so eine Untersuchung in der GSA ab? Was erwartet die Betroffenen? Welche Fragen werden gestellt? Welche Angebote gemacht?
Dr. Saskia Etzold: Wer zu uns kommt, hat meistens schlimme Erfahrungen gemacht, deshalb ist es uns wichtig, dass wir in der GSA eine Atmosphäre schaffen, in der sich die Betroffenen sicher und gut aufgehoben fühlen. Wir haben Spielzeug, Stofftiere und Süßigkeiten für die Kinder, damit sie einen Besuch in der GSA mit einem positiven Erlebnis verbinden. Die Wände sind bunt und erinnern nicht an sterile Praxisräumlichkeiten. Wir nehmen wir uns ausreichend Zeit für die Dokumentation der Fälle und unsere Caremanagerinnen beraten auch über weitere Hilfen oder zeigen Optionen auf, die Betroffenen nach einer Gewalttat offenstehen, wie beispielsweise eine Anzeige oder – bei Sexualdelikten – die vertrauliche Spurensicherung. Für die Dokumentation der Verletzungen fertigen wir selbstverständlich auch Fotos an. Dabei müssen die Betroffenen sich aber nicht vollständig entkleiden, wie sie das vielleicht von Untersuchungen beim Orthopäden oder sonstigen Fachärzten kennen, sondern immer nur eine Stelle nach der anderen für die Fotodokumentation freimachen. Im Anschluss an die Untersuchung können Betroffene auch durch Traumatherapeuten der Opferhilfe e.V. beraten werden, wenn sie dieses wünschen.
Wenn von Gewalt Betroffene nicht unmittelbar in der Nähe der GSA wohnen, können sie dann zur vertraulichen Spurensicherung auch ein anderes Krankenhaus aufsuchen: Wie arbeiten Sie mit anderen Kliniken zusammen? Gibt es Fortbildungsangebote für andere Krankenhäuser für den Umgang mit von Gewalt Betroffenen? Werden Betroffene von anderen Kliniken mitunter auch an die GSA in der Charité weitergeschickt oder gibt es möglicherweise mobile Einsatzteams, die aus der Charité dann andere Kliniken unterstützen?
Dr. Saskia Etzold: Wir sind in Berlin breit vernetzt und haben mit allen Beteiligten, wie Polizei, Feuerwehr, Hilfsorganisation, Krankenhäusern und Fachberatungsstellen regelmäßigen Austausch. In Berlin kennt jede dieser Institutionen die GSA und überweist die Betroffenen zur vertraulichen Spurensicherung nach Sexualdelikten und zur Dokumentation von Verletzungen an uns. In anderen Kliniken wird eine vertrauliche Spurensicherung nicht durchgeführt und auch die reine Verletzungsdokumentation, z.B. nach häuslicher Gewalt, ist oftmals aus personellen Gründen nicht möglich. Die Krankenhäuser nehmen die Betroffenen aber bei Bedarf so lange als Schutzaufnahme auf, bis die GSA öffnet und schicken sie dann mit einem Krankentransport in die GSA der Charité. Werden Betroffene stationär in anderen Kliniken behandelt, fahren wir auch dorthin, um die Dokumentation dort durchzuführen.
In Bremen stehen wir gerade am Anfang der Umsetzung der GSA am Klinikum Bremen Mitte. Haben Sie Tipps für uns, auf was wir achten sollten? Gibt es aus Ihrer Sicht Learnings, die Sie rückblickend bei der Implementierung der GSA an der Charité anders gemacht hätten?
Dr. Saskia Etzold: Da gibt es sicherlich viele Erfahrungen, die wir in Berlin gemacht haben und von denen Sie auch in Bremen profitieren können. Bei uns hat es sich bewährt, dass wir bereits vor der Umsetzung mit allen Stakeholdern und Beteiligten ins Gespräch gegangen sind und auch nach wie vor regelmäßig zusammensitzen, um alle auf dem aktuellsten Stand zu halten. Wir führen auch intern bei Polizei, Beratungsstellen, Klinken und Co. regelmäßig Informationsveranstaltungen durch. Ganz besonders wichtig ist nach wie vor die finanzielle Absicherung der GSA. Es bringt nichts, wenn Sie aufwendig Strukturen aufbauen, die dann nach 2 Jahren nichts mehr taugen, weil die Anschlussfinanzierung fehlt. Wir sind übrigens auch mit Stiftungen und Vereinen im Gespräch und sammeln Spenden für die GSA, beispielsweise für Taxifahrten, damit Betroffene nach der Dokumentation sicher in ein Frauenhaus kommen oder auch für Kuscheltiere, die wir für unsere Arbeit in der GSA ebenfalls häufig brauchen. Ganz wichtig finde ich es auch, dass immer das Vier-Augen-Prinzip der Rechtsmedizin bei der Dokumentation angewendet wird – also, dass immer zwei Ärzt:innen über die Dokumentationen bearbeiten und unterschreiben, damit bei Bedarf auch zwei Ärzt:innen für das Gericht zur Verfügung stehen.. Es ist aktuell in Deutschland recht schwierig, Rechtsmediziner:innen zu finden, die ihre Leidenschaft in der klinischen Rechtsmedizin sehen. Da Bremen ja die GSA an ein Klinikum und nicht direkt an ein rechtsmedizinisches Institut angliedern will, könnte es eine Option sein, neben dem Fachbereich der Rechtsmedizin, der die Expertise im Bereich klinische Rechtsmedizin einbringt, auch mit jungen Internist:innen oder Chirurg:innen als Assistent:innen zu arbeiten, die die Rechtsmediziner:innen unterstützen und dabei auch für ihren weiteren beruflichen Werdegang viel Expertise aus dieser Arbeit herausziehen. Viele Assistenzärzt:innen bleiben gar nicht dauerhaft in einer Klinik und arbeiten vielleicht später als Hausärzt:innen. Die sind dann natürlich nach der Arbeit in der GSA auch sensibilisiert und geschult in dem Umgang mit Betroffenen von häuslicher oder sexualisierter Gewalt.
Haben Sie Wünsche oder Visionen, wie sich die GSA in Berlin weiterentwickeln soll? Was sind nächste Ziele oder Meilensteine, auf die Sie hinarbeiten?
Dr. Saskia Etzold: Sowohl räumlich als auch personell sind wir in Berlin mittlerweile an der Grenze der Machbarkeit angekommen. Deshalb haben wir keinen großen Wachstumsspielraum mehr, sondern arbeiten derzeit an einem Gesetz mit, das sicherstellen soll, dass Betroffene in Berlin in Zukunft ein gesetzlich verbrieftes Recht auf Unterstützung haben.
Das Gespräch führte Diana Schlee mit Dr. Saskia Etzold im Nachgang an den Runden Tisch zur Umsetzung der Istanbul-Konvention.